forum Globales Erinnern an Kolonialismus

Einführung in das Thema

Warnung: Dieser Text enthält Informationen zu Gewalttaten und Verbrechen während der Kolonialzeit. Bitte sei vorsichtig, wenn du sensibel auf diese Themen reagierst, und lies den Text nur, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Dasselbe gilt für die Recherche. Such dir Unterstützung, wenn du sie brauchst.

Kursiv geschriebene Wörter werden am Ende des Textes im Lexikon erklärt.

1. Kurzzusammenfassung

In den 1970er Jahren hatten die meisten ehemaligen *Kolonialstaaten* formale Unabhängigkeit erlangt. Während in diesen Staaten die Neuorganisation der staatlichen Institutionen und Wirtschaftssysteme begann, wurde das Thema in den meisten ehemaligen kolonialisierenden Staaten totgeschwiegen - und dann einfach vergessen. Mit der formalen Unabhängigkeit der Staaten war der Kolonialismus aber nicht zu Ende. Teils bestanden formale Fremdherrschaft fort (wie beispielsweise in den französischen Überseegebieten), fast immer führten wenig veränderte Wirtschaftssysteme in eine neue Form der kolonial anmutenden oder *neokolonialen* Abhängigkeit.

Die Dekolonialisierung bleibt ein unvollendeter Prozess. Wir befinden uns mittlerweile in der von der UN-Generalversammlung ausgerufenen “Fourth International Decade for the Eradication of Colonialism” (“Vierte Internationale Dekade zur Beendigung des Kolonialismus”). Mangelnde Dekolonialisierung betrifft hier geopolitische Aspekte, aber auch Wissens- und Gesellschaftsstrukturen, Hierarchien und Institutionen.

Eine nationale und internationale Aufarbeitung der Kolonialisierung und Anerkennung des geschehenen Unrechts sind bisher zumeist ausgeblieben. Die Neudefinition eines globalen “Sich-Erinnerns” an die Zeit des Kolonialismus, geschehenes Unrecht und neue Abhängigkeitsstrukturen ist damit unumgänglich. Mit einer solchen Erinnerungskultur soll sich die Generalversammlung von MUN-SH 2024 beschäftigen - und dabei insbesondere auch die Stimmen weniger mächtiger Akteure in den Blick nehmen.

2. Punkte zur Diskussion

  • Wie können ehemalige Kolonien und ihre Kolonisatoren ihre Vergangenheit gemeinsam und auf Augenhöhe aufarbeiten? Wie kann sichergestellt werden, dass die Stimmen marginalisierter, also unterdrückter Akteure einbezogen werden?
  • Wie können Staaten einen gerechten Ausgleich schaffen und gestohlene Artefakte zurückgeben, ohne bestehende nationale Erinnerungskulturen zu beeinträchtigen? Welche Rolle können Kompensationen in einem Erinnern und Aufarbeiten spielen?
  • Welche konkreten Ziele sollte eine Erinnerungskultur haben? Kann es eine (global) gemeinsame Erinnerungskultur geben oder birgt dies das Risiko, dass zu stark zwischen Kontexten vereinheitlicht wird?
  • Welche Rolle kann die Vierte Dekade im gemeinsamen Erinnern an den Kolonialismus spielen? Wie kann diese Dekade auch genutzt werden, um die Bemühungen zur Beendigung des Kolonialismus zu verstärken?
  • Kann die Debatte ums Erinnern an Kolonialismus vom Kampf um Dekolonialisierung getrennt werden? Kann also ein Erinnerungsprozess gestartet werden, der keinerlei Umstrukturierung der internationalen Beziehungen vorsieht, die doch so stark auf Kontinuitäten von Ungleichheiten zwischen ehemaligen Kolonien und kolonialisierenden Staaten beruht? Welche Konsequenzen hat das für Erinnerungskulturen?
  • Wie können Bildungseinrichtungen und Forschungseinrichtungen dazu beitragen, das Bewusstsein für den Kolonialismus zu schärfen und Lösungen zu finden?

3. Einleitung

Wenn wir ins Museum gehen, sind wir es mittlerweile gewohnt, Informationen zur Provenienz eines Bildes zu erhalten - also seiner Herkunft und seines Weges in das Museum, in dem wir gerade stehen. Dabei fokussiert sich die deutsche Forschung oftmals auf die Frage nach dem Nationalsozialismus und der unrechtmäßigen Enteignung von Jüdinnen und Juden. Mittlerweile wird versucht, das vergangene Unrecht durch Ausfindigmachen der rechtmäßigen Erb*innen und Entschädigung zu mildern. Seit einiger Zeit gibt es in manchen Museen jedoch auch Provenienz-Angaben in Bezug auf Raubkunst aus der kolonialen Vergangenheit.

Doch es ist nicht nur die Frage des Umgangs mit Raubkunst, mit der sich die Generalversammlung befassen soll. Denn die Folgen von Kolonialismus gehen weit darüber hinaus. Sie sind bis heute - auch nach dem Ende von Kolonialismus in seiner “klassischen Form” in vielen Gebieten - weiterhin spürbar und wirken sich in politischen, kulturellen und sozialen Strukturen ab. Nachfolgend wird daher aufgeführt, weshalb Kolonialismus eine anhaltende Bedeutung beigemessen werden muss und welche Herausforderungen der Dekolonialisierung bestehen - auf einem Weg zu einer gerechteren Zukunft.

4. Hintergrund und Grundsätzliches

Zunächst ist festzuhalten: Eine “einfache” Definition von Kolonialismus als seit Jahrhunderten andauerndes Phänomen, das sich in dieser Zeit immer wieder veränderte, gibt es nicht. Was jedoch gemein scheint, ist der Gegensatz von Kolonisierenden und Kolonisierten - zumeist Europäer*innen und Nicht-Europäer*innen - sowie die Einteilung in angebliche “Rassen” und angebliche “Entwicklungsstufen”. Eine stereotype Aufladung dieser Begriffe und Gegensätze dauert oft bis heute an.

Vom 15. bis ins 20. Jahrhundert bauten europäische Mächte ihre Vorherrschaft durch Unterwerfung aus - in Gebieten Afrikas, Asiens, Amerikas und Ozeaniens. Dort brachten die Kolonialmächte die eroberten Gebiete mithilfe verschiedener Strategien unter ihre Kontrolle. Ursprünglich ortsfremde herrschten also über ortsansässige Gruppen - aus teils unterschiedlichen Gründen. Dabei können verschiedene Formen des Kolonialismus beschrieben werden: Stützpunkt-, Siedlungs- sowie Beherrschungskolonien.

  • Stützpunktkolonien setzen einen Fokus auf strategische Ziele und unterstützen informelle Kontrolle ohne formale Herrschaft. Ein Beispiel dafür ist Kapstadt, das als zentraler Hafen auf dem Weg nach Indien eingerichtet wurde.
  • In Beherrschungskolonien erfolgte eine Ausbeutung von Rohstoffen und weiterer Güter und Menschen, inkl. Sklaverei, ohne eine dauerhafte Siedlungsaktivität. Dies ist beispielsweise in Teilen Afrikas oder Indonesien erfolgt. Eine geringe Anzahl von Verwaltungs- und Militärpersonal lenkte dabei die Geschicke. Eine gewisse informelle Beeinflussung und Zusammenarbeit mit der lokalen bisherigen Elite fand dabei in Teilen statt. Durch eine durch die Kolonialmächte festgelegte Grenzziehung ohne Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten erfolgte die Teilung von Gruppen oder das Zusammenbringen bisher feindlicher Gruppen.
  • Im Siedlungskolonialismus erfolgte eine dauerhafte Besitznahme in den Gebieten; die kolonialistischen Siedler*innen verdrängten durch Zuzug die dort lebende Bevölkerung und gestalteten Verwaltung und Wirtschaft. Eine Ausbeutung und Verarmung der dort ursprünglich lebenden Bevölkerung und deren Ausschluss aus den neuen Strukturen fand statt, in einigen Kolonien ein tatsächlicher Bevölkerungsaustausch. Diese Form findet sich beispielsweise in Nordamerika oder Australien. Sie existiert in Staaten mit indigenen Bevölkerungen bis heute fort, beispielsweise in Kanada, den USA oder auch den nordischen Ländern, auf deren Gebiet die Sámi leben.

Was alle Formen eint: Verheerende Folgen für einheimische Bevölkerungen. Diese erfuhren Unterdrückung, Ausbeutung und Ressourcenraub. Ihre kulturellen Identitäten wurden marginalisiert oder sogar zerstört. Neue Gesellschaftsstrukturen und Hierarchien, an deren Spitze die Kolonialherr*innen standen, wurden etabliert. Teilweise fanden sich koloniale Strukturen bis in die jüngere Vergangenheit - seien es das Apartheid-Regime in Südafrika oder das ”Residential School”-System Kanadas. In vielen Fällen verübten die Kolonisierenden schwere Verbrechen an den Kolonialisierten, bis hin zu zahlreichen Völkermorden. Ein Beispiel dafür ist der Völkermord an den Herero und Nama in der deutschen Kolonie “Deutsch-Südwestafrika” im heutigen Namibia.

Die meisten Kolonialreiche endeten im 20. Jahrhundert, die Auswirkungen der jahrhundertelangen Unterdrückung sind jedoch bis heute spürbar. Denn die rein rechtliche Unabhängigkeit war nicht zugleich das Ende sämtlicher Abhängigkeitsverhältnisse. Fortbestehen tun Abhängigkeiten beispielsweise in der Ausbeutung der Ressourcen ehemaliger Kolonien oder in Abstimmungsregeln der Welthandelsorganisation, die ehemalige Kolonialmächte bevorzugen. Die Entwicklung vieler Systeme, die unsere heutige Welt strukturieren, wurde erst durch koloniale Ausbeutung möglich gemacht. Beispielsweise war das erste Unternehmen, das Aktienhandel betrieb, die Niederländische Ostindien-Kompanie. Auch heute noch wird sie als das Unternehmen mit dem meisten Wert aller Zeiten eingeschätzt - deutlich wertvoller noch als Apple, Amazon, Microsoft und die Bank of America zusammen.

Der Kampf für die Unabhängigkeit kolonialisierter Gruppen führte im Jahr 1960 zur GV-Resolution 1514, welche das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit kolonialisierter Völker betont und verschiedene Bereiche formuliert, in denen der Kolonialismus gewirkt hat. Sie ist zentraler Bestandteil der sogenannten Dekolonialisierung. Ziel der Dekolonialisierung ist es, Auswirkungen des Kolonialismus und verbundene Ungleichheiten nachhaltig zu beseitigen. Sie reicht von Unabhängigkeitsbemühungen bis hin zur Neugestaltung von Wissensstrukturen. Die von der UN ausgerufene Fourth International Decade for the Eradication of Colonialism ist ein wichtiger Bestandteil in diesen Bemühungen.

Die Generalversammlung sollte bei der Diskussion berücksichtigen, welche komplexen historischen, aber auch weiterhin wirkenden Dimensionen Kolonialismus und Dekolonialisierung aufweisen. Rein politische Lösungen können dabei nicht zielführend sein - eine umfassende Dekolonialisierung muss wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte sowie eine gerechte Erinnerungskultur umfassen. Dabei stellt sich auch die schwierige Frage, wie eine Balance zwischen Anerkennung der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart sowie Herstellung einer gerechteren Zukunft erfolgen kann.

5. Aktuelles

Wie gezeigt ist die Dekolonisierung keineswegs abgeschlossen. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die eigene koloniale Vergangenheit und die Anerkennung dieser in den Staaten dar. Übernahme von Verantwortung und Maßnahmen zur Aufarbeitung und Wiedergutmachung sind dabei essentiell.

Mit der bis 2030 laufenden aktuellen “Vierten International Dekade zur Beendigung des Kolonialismus" zeigt die UN ihre Bemühungen zum Vorantreiben der Dekolonialisierung mit dem Ziel der Überwindung der bestehenden Auswirkungen des Kolonialismus. Mit Zerfall der Sowjetunion rief die UN 1990 die erste Dekade aus - um verbliebene Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterstützen und Dekolonialisierung voranzutreiben, auch als ein Zeichen für Souveränität und Gleichberechtigung. Die Bestrebungen und Aktionspläne wurden dabei in den weiterführenden Dekaden fortgeführt und aktualisiert, es gab Aufrufe zur Intensivierung der Bemühungen zur Erreichung der Ziele. Die jetzige Dekade setzt darüber hinaus einen Schwerpunkt auf Fragen der nachhaltigen Entwicklung, Anerkennung der historischen und fortwirkenden Auswirkungen und Schutz der kulturellen und natürlichen Ressourcen.

Eine weitere aktuelle Debatte stellt die Rückgabe gestohlener Artefakte und kultureller Schätze dar. Bis heute sind diese in vielen Museen der ehemaligen Kolonialmächte ausgestellt. Erst in jüngerer Zeit gibt es verstärkte Bemühungen der Rückgabe, was die Anerkennung von Unrecht und Wiederherstellung kultureller Identität in den ehemaligen Kolonien darstellen kann.

In den letzten Jahrzehnten begann in vielen europäischen Staaten darüber hinaus eine Debatte über ihr nationales Erinnern an die Kolonialzeit. Vielen Deutschen ist beispielsweise nicht bekannt, dass vor Beginn des Ersten Weltkriegs Deutschland flächenmäßig die drittgrößte Kolonialmacht war - nach Frankreich und Großbritannien. Deutschland gab alle Kolonien nach Ende des Ersten Weltkriegs ab - was zu einer verzerrten Erinnerung vieler Deutscher führt. Im Rahmen dieser Entwicklung wurde in vielen Staaten diskutiert, beispielsweise Straßen umzubenennen, die nach Kolonialherren benannt waren. Auch wurden Statuen dieser Kolonialherren gestürzt oder abgebaut, wie 1968 die Denkmäler des Gouverneurs Hermann von Wissmann und des Kolonialoffiziers Hans Dominik in Hamburg.

Die Debatten drehen sich dabei oftmals darum, wie erinnert werden soll - und was in die Erinnerung einbezogen werden soll. Konkret fordern viele Verbände in ehemaligen Kolonialstaaten beispielsweise die Einrichtung von Gedenkstätten an koloniales Unrecht, während den Nachfahren der Personen, die wie die Herero und Nama von Kolonialverbrechen betroffen waren, Fragen nach Entschädigung und einer konkreten Umgestaltung der Beziehungen zwischen den Staaten heute viel wichtiger ist. Zudem ist überlieferte Geschichte keinesfalls eine Erzählung, von dem “was wirklich geschehen ist”. Schon seit dem Beginn des Kolonialismus gehört die Art und Weise. wie wir darüber sprechen und seit jüngerer Zeit auch daran erinnern, kolonialen Wissens- und Erinnerungsstrukturen an. So haben Kolonialmächte durch bestimmte oftmals rassistische Erzählungsweisen beispielsweise versucht, ihre Taten zu rechtfertigen oder abzuschwächen. Das Feststellen dessen, was tatsächlich geschehen ist, ist damit auch elementarer Bestandteil des Erinnerns an Kolonialismus. Dazu gehört auch zu hinterfragen, wie wir heute über Kolonialismus und Entwicklung sprechen. Die Debatte stellt daher implizit auch die Frage: An welchen Perspektiven sollen wir unser zukünftiges Handeln orientieren und aus wessen Perspektive soll sich erinnert werden?

6. Probleme und Lösungsansätze

Die Frage des “Wie Erinnerns” ist somit zentral in den Debatten der Generalversammlung. Zusammenfassend soll sie sich mit drei Problemfeldern beschäftigen: Erstens mit den Maßnahmen zur Aufarbeitung der Kolonialzeit, zweitens mit der Frage, wie ein gemeinsames, globales Erinnern an Kolonialismus gelingen kann und drittens mit der Weiterführung der Dekolonialisierung in Zukunft.

Erstens: Wie kann eine Aufarbeitung der Kolonialzeit aussehen? Eine Aufarbeitung von Kolonialismus bedarf einer klaren Benennung von Kolonialverbrechen und ihren Konsequenzen. Die UN-Generalversammlung kann Staaten dazu auffordern, verschiedene Maßnahmen zu treffen. Zumeist an erster Stelle stehen dabei offizielle Entschuldigungen der kolonialisierenden Staaten für die Verbrechen. Eng verbunden sind diese mit Forderungen nach Reparationen, also Ausgleichszahlungen, an Nachfahren der Betroffenen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der deutsche Völkermord an den Herero und Nama, für den Nachfahren seit den 2000er Jahren versuchen, Entschädigungszahlungen einzuklagen. Die ehemaligen kolonialisierenden Staaten sind dabei oftmals nicht bereit, Reparationen zu zahlen, da diese - auf alle kolonialisierenden Akte erweitert - erhebliche Summen darstellen würden und die Staaten Präzedenzfälle befürchten. Ein in diesem Sinne “vollständiges” Entschädigen ehemalig kolonialisierter Gebiete sei daher finanziell und politisch faktisch nicht tragbar. Zudem ist umstritten, ob heutige Generationen für die Kolonialverbrechen haften sollten. Die Generalversammlung könnte debattieren, inwiefern beispielsweise eine Unterstützung der Betroffenen in ihrem Kampf um Anerkennung möglich ist - finanziell wie rechtlich.

Ein weiteres Standbein von Bemühungen um Umgang mit der Kolonialzeit betreffen menschliche Überreste und andere Artefakte, die in Museen ehemaliger Kolonialmächte ausgestellt sind. Der Rückgabeprozess gestaltet sich oftmals als schwierig. Unklar ist häufig, wem die Kunstgegenstände gehören und ob diese nach Rückführung in Museen ausgestellt werden sollten oder es beispielsweise auch möglich sein sollte, dass Gruppen ihnen gehörende Gegenstände im Alltag verwenden. Hier könnte die Generalversammlung der UNESCO, die zuständig ist für Kulturgüter, empfehlen, sich eingängig mit der Thematik zu beschäftigen. Auch könnte die GV Staaten dazu auffordern, menschliche Überreste umfassend zurückzugeben.

Gerade in den ehemaligen kolonialisierenden Staaten ist die koloniale Vergangenheit oftmals nicht fest in der nationalen Erinnerungskultur verankert. Häufig werden Menschen, die von Kolonialverbrechen profitiert haben, nicht kritisch reflektiert. Beispielsweise sind viele Brit*innen durch die Britische Ostindien-Kompanie zu erheblichen Reichtum gelangt und haben diesen genutzt, um sich politischen Einfluss in England zu erkaufen. Viele Häuser und Schlösser, die sie von dem Geld gebaut haben, sind heute Teil des National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty, ohne, dass Kolonialismus eine Rolle in deren Dauerausstellungen spielen würde. Die Generalversammlung könnte darüber diskutieren, wie nationale Aufarbeitungsprozesse beschleunigt und gestärkt werden können und wie der kolonialen Vergangenheit ehemaliger Kolonialmächte eine prominentere Stellung innerhalb nationaler Erinnerungsdynamiken zukommen kann. Diese Veränderung nationaler Erinnerungskultur müsste zwangsläufig auch transnationale Projekte und Bestrebungen beinhalten.

Weiterhin ist für diese Bemühungen ein besseres Verständnis der Kolonialzeit vonnöten. Historische Aufarbeitungen der Zeit sind häufig aus der Perspektive der kolonialisierenden Staaten verfasst, was wichtige Aspekte vernachlässigen oder verfälschen kann. Eine Aufarbeitung benötigt daher auch weitere Forschung, die vor allem die Perspektive der kolonisierten Gebiete und Menschen einnimmt. Dabei ist zu klären, wer diese Forschung finanziert und durch wen sie durchgeführt wird. Für ein globales, also gemeinsames Erinnern ist wichtig, dass sowohl Forscher*innen aus kolonialisierenden als auch kolonisierten Staaten beteiligt sind und ehemals kolonialisierende Staaten ihre historische Verantwortung reflektieren und in die nationale Erinnerungskultur integrieren. Um dieses Wissen auch außerhalb von Forschungsinstituten nutzbar zu machen, könnten Bildungsmaßnahmen zur Kolonialgeschichte in und außerhalb von Schulen gestärkt werden.

Ein zweiter Problemkomplex beschäftigt sich mit der Frage, wie ein globales Erinnern an Kolonialismus möglich sein kann. Es stellt sich die Frage, wie bei umfassender Erinnerung die Unterschiede im Kolonialismus in verschiedenen Regionen bedacht werden können. Wichtig bei einem globalen Erinnern ist daher, die regionalen Unterschiede zu betonen und nicht nach einer einheitlichen Erinnerungskultur zu streben. Ein Anerkennen der Gemeinsamkeiten kolonialer Unterdrückung sollte mit einem Aufruf zum Aufzeigen der individuellen Unterschiede einhergehen. Ein wichtiger Bestandteil dieses globalen Erinnerns ist die oben thematisierte Vierte Dekade. Die UN-Generalversammlung könnte der Dekade mehr Aufmerksamkeit verschaffen: beispielsweise durch Öffentlichkeitsarbeit oder auch durch die Beauftragung eines untergeordneten Gremiums wie des Hauptausschuss 4, sich erneut mit der Umsetzung der Dekade zu beschäftigen.

Drittens ist zu beachten: Insbesondere Betroffene und Aktivist*innen fordern, dass ein Erinnern an die Kolonialzeit nicht von einer Fortführung der Dekolonialisierung getrennt werden kann. Diese ist zwar zu umfangreich, um im Detail in der GV bei MUN-SH 2024 diskutiert zu werden. Im Hinterkopf ist aber immer zu behalten: Aus Sicht vieler Betroffener ist ohne eine Veränderung der bestehenden Ungleichheiten ein Erinnern an Kolonialismus nicht viel wert.

Bei allen zu diskutierenden Punkten muss die GV bei MUN-SH beachten: Im Zentrum sollten die Betroffenen des Kolonialismus und ihre Forderungen stehen. Wenn lediglich ehemalige Kolonialstaaten bestimmen, an was sich erinnert wird und an was nicht, besteht die Gefahr, dass Prozesse der Unterdrückung weitergeführt werden.

7. Hinweise zur Recherche

Um die Haltung des eigenen Landes zum Thema herauszufinden, gilt es in einem ersten Schritt zunächst die Betroffenheit zu prüfen. War das eigene Land von Kolonialisierung betroffen? Oder war es eine Kolonialmacht? Wie sehen die Folgen und der Umgang heute aus? Wo finden sich heute weiterhin Lücken in der Aufarbeitung? Die Quellen am Ende dieses Textes geben Ihnen erste Hinweise dazu. Darüber hinaus können Sie sich informieren, ob beispielsweise Rückgabeforderungen kultureller Artefakte Ihres Staates oder an Ihren Staat existieren, bei ehemaligen Kolonien können Sie sich zu Unabhängigkeitsprozessen und der Dekolonisierung informieren.

 

Lexikon

Dekolonialisierung/ Dekolonisierung/ Dekolonisation: Unabhängigkeitsprozesse ehemaliger Kolonien zu souveränen Staaten, die teilweise abgeschlossen sind, teilweise nicht. Dekolonisierung beschreibt darüber hinaus eine soziale Bewegung und eine Praxis, die historische und bis heute fortwirkende koloniale Machtverhältnisse identifizieren und ihnen entgegenwirken möchte. Hauptanliegen ist es, das Nachwirken des Kolonialismus im internationalen System und in Gesellschaften zu reflektieren und abzubauen.

Erinnerungskultur: Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse. Sie vollzieht sich in allen Formen des kollektiven Gedächtnisses, im (geschichts-)wissenschaftlichen Diskurs, aber auch in privaten Erinnerungen. Träger der Erinnerungskultur können Individuen, soziale Gruppen sowie Staat und Nation sein.

Geopolitik: politische Blickweise, die sich besonders mit der Bedeutung von Standorten auseinandersetzt; politisches Agieren im Hinblick auf überstaatliche/internationale/weltweite Einflüsse und Vorkommnisse.

Kolonialismus: Politik der Besetzung und Ausbeutung fremder Gebiete v.a. durch europäische Länder ab dem 16. Jahrhundert. Kolonialismus ist durch die territoriale Machtausweitung eines Staates mittels langfristig angelegter militärischer, politischer und/oder wirtschaftlicher Kontrolle über das überfallene Gebiet gekennzeichnet.

Neokolonialismus: Fortlaufende wirtschaftliche und politische Einflussnahme auf ehemalige Kolonien durch ehemalige Kolonialmächte oder andere Staaten; Moderne Form der Abhängigkeit von ärmeren oder weniger entwickelten Staaten von reicheren, hochindustrialisierten Staaten, meist in Form einer wirtschaftlichen oder/und politischen Abhängigkeit.

Provenienz: Herkunft einer Person oder einer Sache

Quellenangaben und weiterführende Links

Felix Axster, Erinnerungskultur im globalen Kontext. “Es geht um Solidarität und Empathie”, 2021, https://www.deutschlandfunk.de/erinnerungskultur-im-globalen-kontext-es-geht-um-100.html, Interview mit einem Historiker (Deutsch)

Bundeszentrale für politische Bildung, Kolonialismus, 2012, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/146987/kolonialismus/ , Publikation der Reihe “Aus Politik und Zeitgeschichte” zum Thema Kolonialismus (Deutsch)

Vereinte Nationen, International Decades for the Eradication of Colonialism, https://www.un.org/dppa/decolonization/en/history/international-decades, Informationen der Vereinten Nationen zu den Dekaden zur Beendigung des Kolonialismus, dort sind auch Resolutionen sowie weiterführende Dokumente und Berichte verlinkt (Englisch)

Vereinte Nationen, Kapitel XI – Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung, 1945, https://unric.org/de/charta/#kapitel11, Kap. 11 Artikel 73 der UN-Charta (Deutsch)

-, A/RES/75/123, 2020, https://digitallibrary.un.org/record/3895881?ln=en Resolution zur Einsetzung der Vierten Dekade (Englisch)

-, A/RES/1514(XV), 1961, https://digitallibrary.un.org/record/206145, Resolution 1514 (XV) der Generalversammlung, auch bekannt als "Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples", (Englisch)

ARTE, 2023, Restituieren? Afrika fordert seine Kunstschätze zurück, https://www.youtube.com/watch?v=nv4rS61oL_I, zur Debatte um die Rückführung von Kunstgegenständen und kulturellen Artefakten (Deutsch).

Sam Jones, Goncalo Fonseca, Philip Oltermann, 2023, We need to tell people everything. Portugal grapples with legacy of colonial past, https://www.theguardian.com/world/2023/oct/05/portugal-grapples-with-legacy-of-colonial-past-slave-trading, über Portugals Umgang mit seiner Kolonialgeschichte heute (Englisch).

Goethe Institute, 2023, Postkolonialismus, https://www.goethe.de/ins/nl/de/kul/ges/pos.html, Sammlung verschiedener aktueller Artikel zur Aufarbeitung des Kolonialismus aus Sicht Betroffener (Deutsch)

Esther Helena Arens, 2018, Vergangeheit und Selbstdarstellung - Entwicklungspolitik zwischen Macht und Moral, https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/entwicklung/selbstdarstellung.html, zur Erinnerung an Kolonialismus in den Niederlanden und zum Umgang damit in der Entwicklungszusammenarbeit (Deutsch).

Adres Antebi Arno, 2020, Coming to terms with the Colonial Past. Overdue in Spain, https://www.goethe.de/prj/zei/en/art/21879946.html, zu Erinnerung an Kolonialismus in Spanien (Englisch).

Bundesministerium für Entwicklungspolitische Zusammenarbeit, Kolonialismus und Aufarbeitung der Vergangenheit, 2023, https://www.bmz.de/de/themen/postkolonialismus/historischer-hintergrund-168850, Informationen zur Aufarbeitung des Kolonialismus (Deutsch)

Sebastian Conrad, 2019, Rückkehr des Verdrängten? Die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland 1919-2019, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/297599/rueckkehr-des-verdraengten/, darüber wie sich die Erinnerung an Kolonialismus in Deutschland über Zeit verändert hat (Deutsch)

Elisabeth van Tadden, Michael Rothberg: "Wir brauchen neue Wege, um über Erinnerung nachzudenken", 2021, https://www.zeit.de/kultur/2021-03/michael-rothberg-multidirektionale-erinnerung-buch-holocaust-rassismus-kolonialismus/komplettansicht, Interview mit dem Literaturwissenschaftler Michael Rothberg (Deutsch)

bpb, (Post)kolonialismus und Globalgeschichte, 2023, https://www.bpb.de/themen/kolonialismus-imperialismus/postkolonialismus-und-globalgeschichte/, zu Grundbegriffen und ihren Erklärungen (Deutsch)

Thomas Sandkühler, On the Decolonization of Public Memory. Zur Dekolonisierung öffentlicher Erinnerung, https://public-history-weekly.degruyter.com/9-2021-9/decolonization-public-memory/, zu Provenienzforschung und den Umgang mit der eigenen Geschichte (Englisch/Deutsch).

Daphné Budasz, Colonial Memory and the Social Role of History, https://euideas.eui.eu/2020/07/06/colonial-memory-and-the-social-role-of-history/, der Artikel nimmt die Black Lives Matter Proteste als Aufhänger, gibt viele Beispiele und behandelt v.a. wie Erinnerung im öffentlichen Raum stattfindet, insbesondere bzgl. Statuen (Englisch).

Anette Rein, Postkoloniale Provenienzforschung und ethnografische Sammlungen, https://www.kubi-online.de/artikel/postkoloniale-provenienzforschung-ethnografische-sammlungen, zu Provenienzforschung (Deutsch)

 

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